Fading
I
Im Text ist das Fading der Stimmen eine willkommene Angelegenheit; die Stimmen der Erzählung kommen, gehen, verhallen, durchkreuzen einander; man weiß nicht, wer spricht; es spricht, das ist alles: kein Bild mehr, nichts als Sprache. Aber der Andere ist kein Text, er ist Bild, eines und verwachsend; wenn die Stimme sich verliert, verflüchtigt sich auch das ganze Bild (die Liebe ist monologisch, besessen; der Text ist heterologisch, pervers).
Wenn es zum Fading des Anderen kommt, ängstigt mich das, weil es grundlos und ohne absehbares Ende einzutreten scheint. Der Andere entfernt sich, verflüchtigt sich ins Unendliche wie ein trauriges Trugbild, und ich erschöpfe mich beim Versuch, ihn einzuholen.
(Zu der Zeit, als dieses Kleidungsstück der absolute Mode-„Renner“ war, pries eine amerikanische Firma das verwaschene Blau ihrer Jeans mit dem Slogan an: it fades, fades and fades. So hört auch das geliebte Wesen nicht auf, sich zu verflüchtigen, farblos zu werden: Gefühl von Wahnsinn, reiner noch, als wenn dieser Wahnsinn gewaltsam-heftig wäre.)
II
Die Eifersucht bereitet weniger Leiden, denn der Andere bleibt dabei lebendig. Im Fading dagegen scheint der Andere jede Begierde fahrenzulassen, er wird von der Nacht aufgesogen. Ich bin vom Andern verlassen, aber dieses Verlassensein vermehrt sich um das Verlassensein, von dem er selbst betroffen ist; sein Bild ist von der verwaschenen, abgelegten Art; ich kann an nichts mehr Rückhalt finden, nicht einmal mehr an der Begierde, die der Andere anderswohin richtet: ich bin in Trauer um ein Objekt, das selbst trauert (von daher wird verständlich, in welchem Maße wir der Begierde des Anderen bedürfen, selbst wenn diese Begierde nicht uns gilt.)
III
Wenn der Andere im Fading versinkt, wenn er sich zurückzieht, um nichts, es sei denn um einer Angst willen, die er nicht anders zum Ausdruck zu bringen vermag als mit den dürftigen Worten: „ich fühle mich nicht wohl“, scheint er in einem Nebel in die Ferne zurückzuweichen; durchaus nicht tot, aber eine verschwommene Gestalt im Reiche der Schatten; Odysseus hat ihnen einen Besuch abgestattet, sie beschworen (Nekyia); unter ihnen weilte der Schatten seiner Mutter; ich nenne, ich beschwöre so den Anderen, die Mutter, aber was da heraufkommt, ist lediglich ein Schatten.
IV
Das Fading des Anderen zeigt sich an seiner Stimme. Die Stimme unterstützt die Verflüchtigung des geliebten Wesens, macht sie kenntlich und besiegelt sie sozusagen, denn zur Stimme gehört das Ersterben. Was die Stimme ausmacht, ist, was an ihr mich aufgrund ihres nahen Verstummens erschüttert, so als ob sie alsbald Erinnerung wäre und nichts anderes sein könnte. Dieses Phantom-Wesen der Stimme ist die Modulation. Die Modulation, durch die sich jede Stimme abgrenzt, ist das, was im Begriff ist zu verstummen, ist jene Klangspur, die sich auflöst und verflüchtigt. Die Stimme des geliebten Wesens kenne ich nur als tote, erinnerte, im Innern meines Kopfes, jenseits des Ohres beschworene; schwache und doch monumentale Stimme, weil sie zu jenen Objekten zählt, die erst dann existieren, wenn sie einmal verschwunden sind.
V
Nichts Erschütternderes als eine geliebte und müde Stimme: erschöpfte, gedämpfte, kraftlose Stimme, wie man sagen könnte, Stimme am Ende der Welt, die ganz weit weg in kalten Wassern versinkt: sie ist nahe daran zu erlöschen, so wie das erschöpfte Wesen nahe daran ist zu sterben: die Müdigkeit ist das Unendliche selbst: was nicht aufhört aufzuhören. Diese karge, kurzangebundene, ihrer Knappheit wegen nahezu unwirsche Stimme, dieses beinahe nichts der geliebten und entfernten Stimme wird in mir zu einem monströsen Pfropfen, so als ob mir ein Chirurg einen großen Wattebausch in den Kopf stopfte.
VI
Anscheinend mochte Freud das Telefon nicht, er, der gleichwohl das Zuhören liebte. Vielleicht spürte er, sah er voraus, dass das Telefon immer eine Kakophonie ist und, was es übermittelt, die böse Stimme, die falsche Kommunikation? Mittels des Telefons versuche ich fraglos, die Trennung zu leugnen - wie das Kind, das, weil es die Mutter zu verlieren fürchtet, pausenlos mit einer Spule spielt; aber die Telefonschnur ist kein gutes Übergangsobjekt, sie ist keine leblose Spule; sie ist mit einer Bedeutung behaftet, die nicht die der Verbindung, sondern die der Distanz ist: geliebte, müde, am Telefon vernommene Stimme: das ist das Fading in seiner ganzen Angst. Anfangs, wenn diese Stimme mich erreicht, wenn sie ertönt, wenn sie (mit großer Mühe) weiterspricht, erkenne ich sie nie ganz deutlich; man könnte sagen, dass sie unter einer Maske hervorkommt (so hatten die Masken der griechischen Tragödie bekanntlich eine magische Funktion: der Stimme einen chthonischen Ursprung zu verleihen, sie zu entstellen, sie zu verfremden, sie aus einem unterirdischen Jenseits ertönen zu lassen). Und dann ist der Andere dabei immer im Aufbruch begriffen; er entfernt sich auf doppelte Weise: durch sein Schweigen und durch seine Stimme: an wem ist es, zu sprechen? Wir schweigen gemeinsam: Stauung zweier Leeren. Ich werde dich verlassen, sagt jeden Augenblick die Stimme des Telefons.
VII
Ich erschrecke vor allem, was das Bild des Liebesobjektes zu entstellen droht. Ich erschrecke also vor der Müdigkeit des Andern: sie ist das grausamste aller rivalisierenden Objekte. Wie gegen eine Müdigkeit ankämpfen? Ich sehe durchaus, einziger Halt, der mir bleibt, dass der erschöpfte Andere von dieser Müdigkeit ein Stück abteilt, um es mir zu schenken. Was aber mit diesem Päckchen vor mir ausgebreiteter Müdigkeit anfangen? Was soll diese Gabe besagen? Lassen Sie mich in Ruhe? Nehmen Sie sich meiner an? Niemand antwortet, weil, was zum Geschenk gemacht wird, eben das ist, was nicht antwortet.
Fading. Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe. Übersetzt von Hans-Horst Henschen. Suhrkamp, 1988.
Fading
I
Im Text ist das Fading der Stimmen eine willkommene Angelegenheit; die Stimmen der Erzählung kommen, gehen, verhallen, durchkreuzen einander; man weiß nicht, wer spricht; es spricht, das ist alles: kein Bild mehr, nichts als Sprache. Aber der Andere ist kein Text, er ist Bild, eines und verwachsend; wenn die Stimme sich verliert, verflüchtigt sich auch das ganze Bild (die Liebe ist monologisch, besessen; der Text ist heterologisch, pervers).
Wenn es zum Fading des Anderen kommt, ängstigt mich das, weil es grundlos und ohne absehbares Ende einzutreten scheint. Der Andere entfernt sich, verflüchtigt sich ins Unendliche wie ein trauriges Trugbild, und ich erschöpfe mich beim Versuch, ihn einzuholen.
(Zu der Zeit, als dieses Kleidungsstück der absolute Mode-„Renner“ war, pries eine amerikanische Firma das verwaschene Blau ihrer Jeans mit dem Slogan an: it fades, fades and fades. So hört auch das geliebte Wesen nicht auf, sich zu verflüchtigen, farblos zu werden: Gefühl von Wahnsinn, reiner noch, als wenn dieser Wahnsinn gewaltsam-heftig wäre.)
II
Die Eifersucht bereitet weniger Leiden, denn der Andere bleibt dabei lebendig. Im Fading dagegen scheint der Andere jede Begierde fahrenzulassen, er wird von der Nacht aufgesogen. Ich bin vom Andern verlassen, aber dieses Verlassensein vermehrt sich um das Verlassensein, von dem er selbst betroffen ist; sein Bild ist von der verwaschenen, abgelegten Art; ich kann an nichts mehr Rückhalt finden, nicht einmal mehr an der Begierde, die der Andere anderswohin richtet: ich bin in Trauer um ein Objekt, das selbst trauert (von daher wird verständlich, in welchem Maße wir der Begierde des Anderen bedürfen, selbst wenn diese Begierde nicht uns gilt.)
III
Wenn der Andere im Fading versinkt, wenn er sich zurückzieht, um nichts, es sei denn um einer Angst willen, die er nicht anders zum Ausdruck zu bringen vermag als mit den dürftigen Worten: „ich fühle mich nicht wohl“, scheint er in einem Nebel in die Ferne zurückzuweichen; durchaus nicht tot, aber eine verschwommene Gestalt im Reiche der Schatten; Odysseus hat ihnen einen Besuch abgestattet, sie beschworen (Nekyia); unter ihnen weilte der Schatten seiner Mutter; ich nenne, ich beschwöre so den Anderen, die Mutter, aber was da heraufkommt, ist lediglich ein Schatten.
IV
Das Fading des Anderen zeigt sich an seiner Stimme. Die Stimme unterstützt die Verflüchtigung des geliebten Wesens, macht sie kenntlich und besiegelt sie sozusagen, denn zur Stimme gehört das Ersterben. Was die Stimme ausmacht, ist, was an ihr mich aufgrund ihres nahen Verstummens erschüttert, so als ob sie alsbald Erinnerung wäre und nichts anderes sein könnte. Dieses Phantom-Wesen der Stimme ist die Modulation. Die Modulation, durch die sich jede Stimme abgrenzt, ist das, was im Begriff ist zu verstummen, ist jene Klangspur, die sich auflöst und verflüchtigt. Die Stimme des geliebten Wesens kenne ich nur als tote, erinnerte, im Innern meines Kopfes, jenseits des Ohres beschworene; schwache und doch monumentale Stimme, weil sie zu jenen Objekten zählt, die erst dann existieren, wenn sie einmal verschwunden sind.
V
Nichts Erschütternderes als eine geliebte und müde Stimme: erschöpfte, gedämpfte, kraftlose Stimme, wie man sagen könnte, Stimme am Ende der Welt, die ganz weit weg in kalten Wassern versinkt: sie ist nahe daran zu erlöschen, so wie das erschöpfte Wesen nahe daran ist zu sterben: die Müdigkeit ist das Unendliche selbst: was nicht aufhört aufzuhören. Diese karge, kurzangebundene, ihrer Knappheit wegen nahezu unwirsche Stimme, dieses beinahe nichts der geliebten und entfernten Stimme wird in mir zu einem monströsen Pfropfen, so als ob mir ein Chirurg einen großen Wattebausch in den Kopf stopfte.
VI
Anscheinend mochte Freud das Telefon nicht, er, der gleichwohl das Zuhören liebte. Vielleicht spürte er, sah er voraus, dass das Telefon immer eine Kakophonie ist und, was es übermittelt, die böse Stimme, die falsche Kommunikation? Mittels des Telefons versuche ich fraglos, die Trennung zu leugnen - wie das Kind, das, weil es die Mutter zu verlieren fürchtet, pausenlos mit einer Spule spielt; aber die Telefonschnur ist kein gutes Übergangsobjekt, sie ist keine leblose Spule; sie ist mit einer Bedeutung behaftet, die nicht die der Verbindung, sondern die der Distanz ist: geliebte, müde, am Telefon vernommene Stimme: das ist das Fading in seiner ganzen Angst. Anfangs, wenn diese Stimme mich erreicht, wenn sie ertönt, wenn sie (mit großer Mühe) weiterspricht, erkenne ich sie nie ganz deutlich; man könnte sagen, dass sie unter einer Maske hervorkommt (so hatten die Masken der griechischen Tragödie bekanntlich eine magische Funktion: der Stimme einen chthonischen Ursprung zu verleihen, sie zu entstellen, sie zu verfremden, sie aus einem unterirdischen Jenseits ertönen zu lassen). Und dann ist der Andere dabei immer im Aufbruch begriffen; er entfernt sich auf doppelte Weise: durch sein Schweigen und durch seine Stimme: an wem ist es, zu sprechen? Wir schweigen gemeinsam: Stauung zweier Leeren. Ich werde dich verlassen, sagt jeden Augenblick die Stimme des Telefons.
VII
Ich erschrecke vor allem, was das Bild des Liebesobjektes zu entstellen droht. Ich erschrecke also vor der Müdigkeit des Andern: sie ist das grausamste aller rivalisierenden Objekte. Wie gegen eine Müdigkeit ankämpfen? Ich sehe durchaus, einziger Halt, der mir bleibt, dass der erschöpfte Andere von dieser Müdigkeit ein Stück abteilt, um es mir zu schenken. Was aber mit diesem Päckchen vor mir ausgebreiteter Müdigkeit anfangen? Was soll diese Gabe besagen? Lassen Sie mich in Ruhe? Nehmen Sie sich meiner an? Niemand antwortet, weil, was zum Geschenk gemacht wird, eben das ist, was nicht antwortet.
Fading. Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe. Übersetzt von Hans-Horst Henschen. Suhrkamp, 1988.