Etwas, an das ich mich heute erinnert habe
Für den Vormittag war eine Fotoprobe angesetzt. Ich war mit dem gewöhnlichen Ablauf solcher Termine im Staatsballett noch nicht vertraut, weshalb ich mich früher als sonst auf den Weg machte. Als ich den Hackeschen Markt überquerte, erschien er mir ungewöhnlich verlassen. Es war die Leere nach dem Berufsverkehr und bevor die Touristen ihr Hotelfrühstück beendet haben würden. Ein sonniger, aber kühler Morgen im Frühling. Einige Schulklassen mit Tourguides, die ihre Vorträge auf Englisch, Niederländisch und Italienisch hielten - kleine exterritoriale Inseln hier und da, bis hinunter zur Spree.
Als mich eine Pressemitarbeiterin des Balletts in den Theatersaal begleitet, dachte ich zuerst noch ich wäre zu früh. Tatsächlich war ich als letzte angekommen: Alle Pressefotografen hatten ihre Kameras bereits aufgebaut und ihr Revier durch Kamerastative abgesteckt. Sie haben die Zentralperspektive in der Mitte des Parketts eingenommen. Ich nehme links der Bühne Platz. Ich will nicht von den anderen Fotografen wahrgenommen werden und werde es doch. Ich habe gerade noch Zeit meine Kamera auszupacken, bevor das Licht ausgeht und die Vorführung beginnt.
Ich mache ein erstes Bild, um die Belichtung einzustellen.
Balanchine. Eine Choreographie von 1947. Obwohl ich als Kind zehn Jahre lang Ballettunterricht hatte, weiß ich wenig über Ballettgeschichte oder Tanztheorie. Ich merke unmittelbar, dass ich genervt bin von Tschaikowskys Schmelz, von den Tutus, den klassischen Posen – obwohl ich doch immerhin weiß, dass diese Choreographie damals nicht nur von einem Erinnern an die Vergangenheit des Balletts handelte, sondern auch von einer
Vorstellung vom Jetzt: von der Reduktion allein auf den Tanz, vom Verzicht auf eine dramatische Erzählung. Heute aber fehlt mir die Geduld für so etwas. Ich kann nicht offen für das Alte sein, ich will etwas Neues und weiß, dass ich in den nächsten zwei Stunden am falschen Ort dafür bin. Ich weiß noch nicht, wie ich damit umgehen soll.
Später, zurück an meinem Schreibtisch. Ich übertrage die Aufnahmen auf meine Festplatte und betrachte die Fotos eins nach dem anderen: Mein anfänglicher Unwille ist auf ihnen sichtbar.
Ich sehe Fotos, die die fertig ausgeführten Posen zeigen, so wie man es von Ballettfotos nun einmal erwartet. Ich kann anhand dieser Bilder sehen, dass diese Posen zu Beginn noch mein einziger Orientierungspunkt waren.
Ein paar Bilder weiter bemerke ich die Gesichter der Tänzerinnen. Ihre unterschiedlichen Ausdrücke und Kopfhaltungen. Ich bemerke, wie meine Aufmerksamkeit auf den nächsten Fotos offensichtlich immer weiter weg von den Posen und hin zu den Gesichtsausdrücken der Tänzerinnen gewandert ist.
Ich will die Zeitlosigkeit ihrer Gesichtszüge zeigen. Mich interessiert das kurze Ausbrechen aus ihren professionellen Rollen. Wie sie sich ansehen, sich abstimmen und verständigen. Wie sich das elegante Lächeln der Ballettprinzessin kurz in einen Ausdruck persönlicher Freude zu wandeln scheint.
Ich konvertiere die Fotos in schwarz/weiß, um ihnen auf diese Weise einen dokumentarischen Charakter zu verleihen.
Ich sehe mir die Metadaten der Fotos an: das Folgende sind 70 Sekunden.
Ich sehe die Haltung der Arme. Sie wird vollendet immer nur ganz kurz sichtbar, und doch wiederholt: in anderen Momenten, anderen Konstellationen. An den Armhaltungen kommt mehr als in allem anderen die Individualität der Tänzerinnen zum Vorschein. Etwas, das weder durch jahrelange Ausbildung, durch Schulen und Traditionen, noch durch die Vorstellungen und Überzeugungen des Choreographen
so wirklich formbar zu sein scheint. Ist der Arm gestreckt, oder eher gebeugt? Und wenn ja, wie rund? In welchen Gelenken ist diese Beugung angelegt? Schon in der Schulter, in der Armbeuge? Wie weit ist die Hand abgewinkelt? Welche Finger gespreizt?
Dann beginnt das Pas de Deux.
Ich erinnere mich daran, wie am Morgen meine Begeisterung über die Gesichtsausdrücke der Tänzerinnen plötzlich abnimmt. Auch das Licht auf der Bühne wird gedimmt, und das pudrige Graublau verwandelt sich in ein tiefes, dunkles Blau. Wie selbstverständlich wird es Nacht, wenn zwei alleine sind. Ich spüre meinen Widerwillen gegen diese Darstellung von Romantik, ich will das nicht
sehen, ich will nicht in diese Unterhaltung hinein gezogen werden einfach durch meine Anwesenheit. Ich will nicht mit dem Kopf nicken, während mir jemand eine Lüge erzählt. Also schalte ich mich aus.
Ich fotografiere ins Leere der Bewegungen. Ich verlängere die Belichtungszeit damit es verschwindet.
1/160 Sekunden
1/80 Sekunden
1/20 Sekunden
1/20 Sekunden
1/13 Sekunden
1/13 Sekunden
Als das Pas de Deux beendet ist, wird auf der Bühne wird das Licht wieder hell. Ich sitze im dunklen Zuschauerraum und kann meine Einstellung wieder ändern: meine eigene zu dem Stück und die Einstellung meiner Kamera. Ich schaue nach unten und stelle die Verschlusszeit wieder hoch. Jetzt, am Computer, lasse ich die Farbe wieder in den Bildern.
Plötzlich ist die Bühne voll mit Tänzern.
Es ist nicht mehr so wichtig, wohin ich den Fokus richte, denn alles wird gleich bedeutsam.
Dann fällt mir etwas auf.
Mein Blick richtet sich nach oben, zur Decke dieses Ballsaals.
Ich erinnere mich an einen Moment im Ballettunterricht damals. In unserer Klasse bekamen wir zum ersten Mal Spitzenschuhe. Wir wären nun alt genug dafür, unsere Füße kräftig genug gewachsen. Diesen Moment erinnere ich
besser, als das erste Mal fallen gelassen worden zu sein. Er bedeutete mir mehr als der erste Kuss etwas später. Ich erinnere mich besser daran, als mein Abiturzeugnis zu bekommen, und das erste Mal mit meinem Freund zu schlafen.
Und meine Füße waren stark! Das erste Paar Spitzenschuhe war nach kurzer Zeit ganz weich getanzt. Die Sohle des nächsten Paars musste vom Schuhmacher verstärkt werden, so sehr konnte ich meine Füße beugen. Die Enge der Schuhe fühlte sich nie bedrückend an, denn ich spürte ja genau, wie sie mir Halt gaben.
Es konnte nur in diese eine Richtung mit meinen Spitzenschuhen gehen. Denn dafür waren sie ja da, wie unsere Ballettlehrerin uns erklärte: Sie helfen, uns leicht zu machen, als könnten wir fliegen.
Für kurze Momente nach oben, in den Himmel, ins Licht, kurz schweben, um wieder aif dem Boden aufzukommen und wieder abzuheben.
Eine Pirouette im Sprung, wieder wegfedern nach oben, noch einmal, wie alt war ich – zwölf? Und wieder, die Diagonale durch den Saal, auf den großen Spiegel zu, zu mir selbst – das stellte ich mir damals vor.
Etwas, dem ich näher kommen kann und das sich nur um mich dreht. Und zurück, von vorne.
Wieder wegspringen,
in den Himmel,
starker Fuß,
Arme hoch,
langer Hals,
kurz fliegen.
Komm Entchen, Arme höher, nach oben, ins Licht.
Etwas, an das ich mich heute erinnert habe
Für den Vormittag war eine Fotoprobe angesetzt. Ich war mit dem gewöhnlichen Ablauf solcher Termine im Staatsballett noch nicht vertraut, weshalb ich mich früher als sonst auf den Weg machte. Als ich den Hackeschen Markt überquerte, erschien er mir ungewöhnlich verlassen. Es war die Leere nach dem Berufsverkehr und bevor die Touristen ihr Hotelfrühstück beendet haben würden. Ein sonniger, aber kühler Morgen im Frühling. Einige Schulklassen mit Tourguides, die ihre Vorträge auf Englisch, Niederländisch und Italienisch hielten - kleine exterritoriale Inseln hier und da, bis hinunter zur Spree.
Als mich eine Pressemitarbeiterin des Balletts in den Theatersaal begleitet, dachte ich zuerst noch ich wäre zu früh. Tatsächlich war ich als letzte angekommen: Alle Pressefotografen hatten ihre Kameras bereits aufgebaut und ihr Revier durch Kamerastative abgesteckt. Sie haben die Zentralperspektive in der Mitte des Parketts eingenommen. Ich nehme links der Bühne Platz. Ich will nicht von den anderen Fotografen wahrgenommen werden und werde es doch. Ich habe gerade noch Zeit meine Kamera auszupacken, bevor das Licht ausgeht und die Vorführung beginnt.
Ich mache ein erstes Bild, um die Belichtung einzustellen.
Balanchine. Eine Choreographie von 1947. Obwohl ich als Kind zehn Jahre lang Ballettunterricht hatte, weiß ich wenig über Ballettgeschichte oder Tanztheorie. Ich merke unmittelbar, dass ich genervt bin von Tschaikowskys Schmelz, von den Tutus, den klassischen Posen – obwohl ich doch immerhin weiß, dass diese Choreographie damals nicht nur von einem Erinnern an die Vergangenheit des Balletts handelte, sondern auch von einer
Später, zurück an meinem Schreibtisch. Ich übertrage die Aufnahmen auf meine Festplatte und betrachte die Fotos eins nach dem anderen: Mein anfänglicher Unwille ist auf ihnen sichtbar.
Ein paar Bilder weiter bemerke ich die Gesichter der Tänzerinnen. Ihre unterschiedlichen Ausdrücke und Kopfhaltungen. Ich bemerke, wie meine Aufmerksamkeit auf den nächsten Fotos offensichtlich immer weiter weg von den Posen und hin zu den Gesichtsausdrücken der Tänzerinnen gewandert ist.
Ich will die Zeitlosigkeit ihrer Gesichtszüge zeigen. Mich interessiert das kurze Ausbrechen aus ihren professionellen Rollen. Wie sie sich ansehen, sich abstimmen und verständigen. Wie sich das elegante Lächeln der Ballettprinzessin kurz in einen Ausdruck persönlicher Freude zu wandeln scheint.
Ich sehe die Haltung der Arme. Sie wird vollendet immer nur ganz kurz sichtbar, und doch wiederholt: in anderen Momenten, anderen Konstellationen. An den Armhaltungen kommt mehr als in allem anderen die Individualität der Tänzerinnen zum Vorschein. Etwas, das weder durch jahrelange Ausbildung, durch Schulen und Traditionen, noch durch die Vorstellungen und Überzeugungen des Choreographen
Dann beginnt das Pas de Deux.
Ich erinnere mich daran, wie am Morgen meine Begeisterung über die Gesichtsausdrücke der Tänzerinnen plötzlich abnimmt. Auch das Licht auf der Bühne wird gedimmt, und das pudrige Graublau verwandelt sich in ein tiefes, dunkles Blau. Wie selbstverständlich wird es Nacht, wenn zwei alleine sind. Ich spüre meinen Widerwillen gegen diese Darstellung von Romantik, ich will das nicht
1/160 Sekunden
1/80 Sekunden
1/20 Sekunden
1/20 Sekunden
1/13 Sekunden
1/13 Sekunden
Als das Pas de Deux beendet ist, wird auf der Bühne wird das Licht wieder hell. Ich sitze im dunklen Zuschauerraum und kann meine Einstellung wieder ändern: meine eigene zu dem Stück und die Einstellung meiner Kamera. Ich schaue nach unten und stelle die Verschlusszeit wieder hoch. Jetzt, am Computer, lasse ich die Farbe wieder in den Bildern.
Dann fällt mir etwas auf.
Mein Blick richtet sich nach oben, zur Decke dieses Ballsaals.
Ich erinnere mich an einen Moment im Ballettunterricht damals. In unserer Klasse bekamen wir zum ersten Mal Spitzenschuhe. Wir wären nun alt genug dafür, unsere Füße kräftig genug gewachsen. Diesen Moment erinnere ich
Und meine Füße waren stark! Das erste Paar Spitzenschuhe war nach kurzer Zeit ganz weich getanzt. Die Sohle des nächsten Paars musste vom Schuhmacher verstärkt werden, so sehr konnte ich meine Füße beugen. Die Enge der Schuhe fühlte sich nie bedrückend an, denn ich spürte ja genau, wie sie mir Halt gaben.
Es konnte nur in diese eine Richtung mit meinen Spitzenschuhen gehen. Denn dafür waren sie ja da, wie unsere Ballettlehrerin uns erklärte: Sie helfen, uns leicht zu machen, als könnten wir fliegen.
Für kurze Momente nach oben, in den Himmel, ins Licht, kurz schweben, um wieder aif dem Boden aufzukommen und wieder abzuheben.
Eine Pirouette im Sprung, wieder wegfedern nach oben, noch einmal, wie alt war ich – zwölf? Und wieder, die Diagonale durch den Saal, auf den großen Spiegel zu, zu mir selbst – das stellte ich mir damals vor.
Etwas, dem ich näher kommen kann und das sich nur um mich dreht. Und zurück, von vorne.
Wieder wegspringen,
in den Himmel,
starker Fuß,
Arme hoch,
langer Hals,
kurz fliegen.
Komm Entchen, Arme höher, nach oben, ins Licht.